Wirksamkeit des Gebets

Wir alle verdanken das, was wir sind, sowie unsere Berufung dem Gebet und den Opfern vieler Menschen. Im Falle des bekannten Mainzer Bischofs Wilhelm Emmanuel von Ketteler († 1877), Großonkel des berühmten Clemens August Kardinal Graf von Galen, war es eine Ordensschwester, die einfachste und unbedeutendste ihres Klosters, die für den Bischof betete und opferte.
Im Jahr 1869 war Bischof Ketteler zu Gast bei einem bischöflichen Mitbruder. Im Laufe des Gesprächs kam der Gastgeber auf das überaus segensreiche Wirken seines Gastes zu sprechen. Doch Bischof Ketteler erklärte seinem Gastgeber: „Alles, was ich mit Gottes Hilfe erreicht habe, verdanke ich dem Gebet und Opfer eines mir unbekannten Menschen. Ich kann nur so viel sagen: Ich weiß, es hat sich jemand mit seinem ganzen Leben für mich dem lieben Gott geopfert, und diesem Opfer habe ich es zu verdanken, dass ich überhaupt Priester geworden bin.“
Und er fuhr fort: „Ursprünglich war ich nicht zum Priester bestimmt. Ich hatte meine Staatsprüfung in Rechtswissenschaften gemacht und dachte nur daran, möglichst bald voranzukommen, eine bedeutende Stelle in der Welt zu erhalten und Ehre, Ansehen und Geld zu erwerben. Ein außerordentliches Ereignis hielt mich von diesem Weg zurück und lenkte mein Leben in eine andere Bahn. Eines Abends war ich allein im Zimmer und überließ mich meinen ehrgeizigen Träumen und Zukunftsplänen. Ich weiß nicht, was nun geschah. Wachte oder schlief ich, sah ich in Wirklichkeit oder im Traum? Aber das eine weiß ich: Was ich sah, führte eine Wende in meinem Leben herbei. Ganz klar und deutlich schaute ich, wie Christus über mir in einer strahlenden Wolke stand und mir Sein Heiligstes Herz zeigte. Vor ihm kniete eine Ordensfrau, die flehend ihre Hände zu Ihm erhob. Aus Seinem Mund aber hörte ich die Worte: ,Sie betet ohne Unterlass für dich!‘ Ich sah ganz deutlich die Gestalt der Beterin, und ihre Gesichtszüge haben sich mir so eingeprägt, dass ich sie noch heute im Gedächtnis habe. Sie schien eine ganz gewöhnliche Laienschwester zu sein. Ihr Gewand war sehr ärmlich und grob, ihre Hände waren wie von schwerer Arbeit gerötet und schwielig. Mag dem nun sein, wie da will, mag es ein Traumbild gewesen sein oder nicht, außerordentlich war es jedenfalls für mich; denn ich wurde davon so bis ins Mark hinein erschüttert, dass ich von da an beschloss, mich ganz Gott im priesterlichen Dienst zu weihen. Ich zog mich in ein Kloster zurück, um Exerzitien zu machen, und besprach alles mit meinem Beichtvater. Mit 30 Jahren begann ich dann, Theologie zu studieren. Das Weitere wissen Sie. Und wenn Sie nun meinen, dass durch mich irgendwie Gutes geschieht, so wissen Sie jetzt auch, wer eigentlich das Verdienst daran hat. Es ist jene Klosterfrau, die für mich gebetet hat, vielleicht ohne mich zu kennen. Denn ich bin überzeugt, dass für mich gebetet worden ist und noch im Verborgenen gebetet wird, und dass ich ohne dieses Gebet das Ziel, das Gott mir gesteckt hat, nicht erreichen würde.“
„Haben Sie eine Ahnung, wo und durch wen für Sie gebetet worden ist?“ fragte sein bischöflicher Gastgeber. „Nein, ich kann nur Gott täglich bitten, dass Er sie, wenn sie noch auf Erden ist, segne und ihr tausendfach vergelte, was sie an mir getan.“

Die Stallschwester

Am nächsten Tag besuchte Bischof Ketteler einen nahe gelegenen Schwesternkonvent der Stadt und feierte dort in der Hauskapelle die hl. Messe. Schon war er bei der Kommunionausteilung am Ende der letzten Reihe angekommen, als sein Blick plötzlich auf einer Ordensschwester haften blieb. Tiefe Blässe breitete sich über sein Antlitz aus. Er stand da, ohne sich zu bewegen; doch raffte er sich auf und spendete der andächtig knienden Nonne, die von der Verzögerung nichts bemerkt hatte, die Kommunion. Ruhig beendete er dann die hl. Messe.

Zum Frühstück war auch der Bischof, dessen Gast er war, ins Kloster gekommen. Anschließend bat Bischof Ketteler die Oberin, ihm sämtliche Schwestern des Hauses vorzustellen, und nach kurzer Zeit waren alle versammelt. Die beiden Bischöfe begaben sich zu ihnen, und Bischof Ketteler überflog grüßend und suchend die Reihen der Schwestern. Doch er schien nicht zu finden, was er suchte. Leise fragte er die Oberin: „Sind wirklich alle Schwestern da?“ Sie überschaute die Schwesternschar und sagte dann: „Bischöfliche Gnaden, ich ließ alle rufen, aber es fehlt in der Tat eine Schwester.“ „Warum ist sie denn nicht gekommen?“ „Sie besorgt den Stall“, antwortete die Oberin, „und zwar in so musterhafter Weise, dass sie in ihrem Eifer dann manchmal andere Dinge vergisst.“ „Ich wünsche die Schwester zu sehen“, bat der Bischof.
Nach einiger Zeit trat die Gerufene herein. Wieder erbleichte er, und nach einigen Worten an alle Schwestern bat er, mit dieser einen Schwester allein gelassen zu werden. „Kennen Sie mich?“ fragte er sie nun. „Ich habe Bischöfliche Gnaden noch nie gesehen.“ „Haben Sie einmal gebetet oder gute Werke für mich aufgeopfert?“ wollte Ketteler wissen. „Es ist mir nicht bewusst, da ich von Eurer Bischöflichen Gnaden noch nie gehört habe.“ Der Bischof stand einige Augenblicke schweigend da und fragte plötzlich weiter: „Welche Andacht pflegen Sie am liebsten und häufigsten?“ „Die Andacht zum Heiligsten Herzen Jesu“, war die Antwort. „Sie haben, wie es scheint, die schwerste Arbeit im Kloster“, fuhr er fort. „O nein, Bischöfliche Gnaden“, entgegnete die Schwester, „aber ich kann nicht leugnen, dass sie mir zuwider ist.“ „Und was tun Sie, wenn solche Anfechtungen kommen?“ „Ich habe mir angewöhnt, alle Dinge, die mich Überwindung kosten, aus Liebe zu Gott erst recht gern und eifrig anzupacken. Und ich opfere das dann auf für eine Seele auf dieser Welt. Wem der liebe Gott dafür gnädig sein will, das habe ich Ihm ganz überlassen und will es nicht wissen. Auch die Stunde der Anbetung vor dem Heiligsten Sakrament jeden Abend von acht bis neun Uhr opfere ich in dieser Meinung auf.“ „Und wie kommen Sie auf diesen Gedanken, all Ihre Verdienste für eine ganz unbekannte Seele aufzuopfern?“ „Das hatte ich mir schon angewöhnt, als ich noch in der Welt draußen war“, lautete die Antwort. „In der Schule lehrte uns nämlich der Herr Pfarrer, dass und wie man für seine Angehörigen beten und seine Verdienste aufopfern solle. Außerdem, meinte er, solle man auch für andere, die in Gefahr sind, verloren zu gehen, viel beten. Da aber nur Gott wisse, wer das Gebet besonders braucht, so sei es das Beste, seine Verdienste dem Heiligsten Herzen Jesu zur Verfügung zu stellen, damit sie demjenigen zugutekommen, für den Seine Allwissenheit und Weisheit es für gut fände. So habe ich es gemacht“, schloss sie, „und immer gedacht, Gott werde die rechte Seele schon finden.“

Tag der Geburt und Tag der Bekehrung

„Wie alt sind Sie?“, wollte Ketteler wissen. „Dreiunddreißig Jahre, Bischöfliche Gnaden“, war die Antwort. Der Bischof hielt einen Augenblick betroffen inne. Dann sagte er: „Wann sind Sie geboren?“ Die Schwester nannte den Tag. Da entfuhr dem Bischof ein Ausruf. Ihr Geburtstag war sein Bekehrungstag! An jenem Tag hatte er sie genau so vor sich gesehen, wie sie jetzt vor ihm stand. „Und wissen Sie gar nicht, ob Ihr Gebet und Opfer Erfolg gehabt haben?“, fragte er weiter. „Nein, Bischöfliche Gnaden.“ „Und wünschen Sie es nicht zu wissen?“ „Der liebe Gott weiß, wenn etwas Gutes geschieht, und das ist genug“, war die einfache Antwort. Der Bischof war erschüttert. „So fahren Sie in Gottes Namen mit diesem Werk fort“, sagte er.
Die Schwester aber kniete bereits zu seinen Füßen und erbat seinen Segen. Der Bischof erhob feierlich seine Hände und sprach mit tiefer Bewegung und Ergriffenheit: „So segne ich Sie in der Kraft und Gewalt, die ein Bischof zum Segnen hat. Ich segne Ihre Seele, ich segne Ihre Hände und deren Arbeit, ich segne Ihr Beten und Opfern, Ihr Überwinden und Gehorchen. Ich segne Sie ganz besonders für die letzte Stunde und bitte Gott, dass Er Ihnen mit all Seinem Trost beistehe.“ – „Amen“, antwortete die Schwester ruhig, erhob sich und ging.

Eine Lehre für das ganze Leben

Der Kirchenfürst aber trat, im Innersten erschüttert, ans Fenster und blickte, nach Fassung ringend, hinaus. Etwas später verabschiedete er sich von der Oberin und kehrte in die Wohnung seines bischöflichen Freundes zurück. Diesem vertraute er an: „Nun ist jene gefunden, der ich meine Berufung verdanke. Es ist die letzte und ärmste Laienschwester des Klosters. Ich kann Gott nicht genug für Seine Barmherzigkeit danken. Denn die Schwester betet seit fast 20 Jahren für mich. Gott aber hat schon im Voraus ihr Gebet angenommen und an dem Tag, an dem sie das Licht der Welt erblickte, bereits meine Bekehrung bewirkt, im Vorauswissen ihrer fürbittenden Werke und Gebete. Welch eine Lehre und Mahnung für mich!“, fügte er bei. „Wenn ich je in Versuchung kommen sollte, wegen gewisser Erfolge und wegen meines Wirkens vor den Menschen eitel zu werden, dann muss ich mir um der Wahrheit willen stets vor Augen halten: Das verdankst du dem Gebet und dem Opfer einer armen Magd im Klosterstall. Und wenn mir eine kleine und geringe Arbeit wenig wertvoll erscheinen möchte, dann sagt mir dieselbe Tatsache: Das, was diese Magd im demütigen Gehorsam Gott gegenüber und in Selbstüberwindung tut und opfert, ist vor Gott dem Herrn so viel wert, dass diese Verdienste der Kirche einen Bischof erweckt haben.“